Die aktuelle Studie des Pestel-Instituts, vorgestellt auf der Expo Real von der Messe München, bringt es auf den Punkt: Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist längst nicht mehr nur ein soziales Problem, sondern bremst die wirtschaftliche Entwicklung. Gerade in München, aber auch in anderen deutschen Ballungsräumen, fehlen zehntausende Wohnungen. Die Folge sind explodierende Mieten, Verdrängungseffekte und ein Arbeitsmarkt, der ins Stocken gerät. Doch bei aller wirtschaftlichen Dringlichkeit darf eines nicht vergessen werden: Wohnen ist ein Menschenrecht. Es geht nicht nur um Zahlen, Bilanzen und Renditen, sondern um das Recht jedes Menschen auf ein sicheres Zuhause. Die wirtschaftliche Transformation, vor der München steht, kann nur gelingen, wenn sie die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellt – und das bedeutet, Wohnen nicht als Nebensache zu behandeln.
Die Pestel-Studie macht deutlich, wie eng Wohnungsmarkt und Wirtschaft mittlerweile verflochten sind. Der Wohnungsmangel ist zur Wachstumsbremse geworden. Unternehmen berichten, dass sie offene Stellen nicht besetzen können, weil potenzielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schlichtweg keinen Wohnraum finden. Besonders hart trifft es kleine und mittlere Betriebe, die nicht mit den Gehältern der großen Konzerne mithalten können. Für sie ist der Münchner Wohnungsmarkt zu einer unüberwindbaren Hürde geworden.
Stellen wir uns einen kleinen Industriebetrieb im Münchner Norden vor. Die Firma produziert innovative Maschinenbauteile und ist in ihrer Nische durchaus erfolgreich. Das Auftragsbuch ist voll, die Nachfrage steigt. Doch der Betrieb steht vor einem Problem, das sich mit keinem Werkzeug aus der Werkstatt lösen lässt: Es finden sich keine neuen Mitarbeiter. Junge Fachkräfte aus anderen Regionen winken ab, sobald sie sich die Mietpreise anschauen oder nach einer bezahlbaren Wohnung suchen. Familien mit Kindern geben auf, bevor sie überhaupt anfangen. Selbst ausgebildete Kräfte aus dem Umland können sich den täglichen Pendelverkehr nicht mehr leisten. Die Geschäftsführung hat schon alles versucht – flexible Arbeitszeiten, Homeoffice, Zuschüsse zum ÖPNV. Doch ohne Wohnraum bleibt jede Recruiting-Kampagne ein Strohfeuer. So bleibt das Wachstum aus, Innovationen werden verschoben und der Betrieb verliert im internationalen Wettbewerb an Boden.
Vor einigen Jahrzehnten gehörten Werkswohnungen zum Standardrepertoire vieler Unternehmen, gerade in München. Die öffentliche Hand, aber auch große Konzerne wie Siemens, Bahn oder Post, bauten eigene Wohnungen für ihre Beschäftigten. Sie verstanden, dass wirtschaftlicher Erfolg ohne soziale Verantwortung nicht nachhaltig sein kann. Doch mit dem Boom der Immobilienmärkte und einer zunehmenden Fokussierung auf kurzfristige Gewinne wurden viele dieser Werkswohnungen verkauft – auch in München. Siemens etwa veräußerte 2009 deutschlandweit 4.000 Mitarbeiterwohnungen, davon 1.100 allein in München. Die Stadtwerke München hingegen blieben ihrer sozialen Verantwortung treu und halten bis heute rund 1.350 Werkswohnungen für ihre Beschäftigten bereit, mit günstigen Mieten und in attraktiven Lagen. In den nächsten zehn Jahren soll sich dieser Bestand sogar verdoppeln.
Die meisten privaten Unternehmen zeigen dagegen wenig Interesse, den Werkswohnungsbau wieder aufleben zu lassen. Sie verweisen auf Homeoffice, hybride Arbeitsmodelle und neue Quartiersentwicklungen. Doch das Problem bleibt: Gerade die Menschen, die München am Laufen halten, Busfahrerinnen, Krankenpfleger, Handwerkerinnen, Industriearbeiter, finden auf dem freien Markt kaum noch eine Bleibe. Die Stadtspitze fordert daher seit Jahren, dass Unternehmen, die sich in München ansiedeln oder erweitern, beim Bau von Werkswohnungen in die Pflicht genommen werden. Oberbürgermeister Dieter Reiter bringt es auf den Punkt: „Wirklich ändern wird sich die Situation nur, wenn die großen Unternehmen sich ihrer Verantwortung bewusst werden“.
München hat in den letzten Jahren viel erreicht. Der Anteil am gesamten Wohnungsbestand, auf den die Stadt entweder als Eigentümerin oder über Belegrechte direkten Einfluss hat, ist deutlich gewachsen. In Neubaugebieten wie Freiham entstehen fast ausschließlich geförderte oder sozial gebundene Wohnungen. Die Stadt unterstützt Genossenschaften, fördert das AzubiWerk für junge Menschen und nutzt jedes Instrument, um Mieterinnen und Mieter vor Verdrängung zu schützen. Aber die Möglichkeiten der Kommune sind begrenzt. Die Stadt fordert deshalb vom Freistaat und vom Bund mehr Handlungsspielräume und stärkeren Mieterschutz, etwa durch eine Reform des Mietspiegels, eine stärkere Mietpreisbremse und ein kommunales Vorkaufsrecht.
Gleichzeitig setzt München auf innovative Ansätze: Büroflächen sollen leichter in Wohnungen umgewandelt werden, reine Gewerbegebiete werden zu Mischquartieren entwickelt, und ein Flächenmanagement identifiziert ungenutzte Potenziale für neuen Wohnraum. Besonders wichtig ist dabei die Zusammenarbeit mit den Umlandgemeinden. Zweckverbände organisieren gemeinsam Wohnungsbau und Infrastruktur, um Verdrängungseffekte und Bodenspekulation zu bekämpfen.
Ein konkreter Vorschlag aus der Stadtpolitik: Unternehmen, die in München einen großen Personalbedarf anmelden, sollen eine jährliche Wohnraumumlage zur Finanzierung kommunaler Neubauprojekte leisten. Außerdem könnten neue Gewerbegebiete künftig nur noch dann genehmigt werden, wenn dort auch Wohnraum für die Beschäftigten entsteht. Die Transformation der Stadt wird so aktiv und sozial gestaltet – nicht als Selbstzweck, sondern als Beitrag zu einer lebenswerten Stadt für alle.
Die Transformation der Wirtschaft - Digitalisierung, Energiewende, neue Mobilität - verlangt nach klugen Köpfen und engagierten Händen. Doch wie sollen diese Menschen nach München kommen, wenn sie dort keinen Platz zum Leben finden? Die Stadt kann noch so innovativ, digital und nachhaltig sein, ohne Wohnungen bleibt der Wandel Theorie. Werkswohnungen könnten ein Schlüssel für die Zukunft sein. Sie bieten nicht nur den Beschäftigten Sicherheit, sondern stärken auch die Bindung ans Unternehmen und fördern die Integration neuer Fachkräfte.
Die Stadtwerke München und einzelne Kliniken machen vor, wie es gehen kann: Sie bauen gezielt Wohnungen für ihr Personal, kooperieren mit städtischen Wohnungsbaugesellschaften und schaffen so Perspektiven für die dringend benötigten Fachkräfte. Doch das reicht nicht. Es braucht einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaft: Unternehmen dürfen das Thema Wohnraum nicht länger als Aufgabe der Allgemeinheit betrachten. Wer von Münchens Wachstum profitiert, muss auch einen Beitrag leisten, damit die Stadt für alle lebenswert bleibt.
Wohnen ist und bleibt ein Menschenrecht. Die wirtschaftliche Entwicklung Münchens kann nur gelingen, wenn sie die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Die Transformation der Wirtschaft braucht Köpfe und diese Köpfe brauchen ein Zuhause. Wer das versteht, wird auch in Zukunft erfolgreich sein. Unternehmen, die sich verweigern, werden erleben, dass der Wohnungsmarkt zur größten Stolperfalle der Transformation wird. Das ist aber vermeidbar.