Die Kunst der Kompromissverschleierung

13. April 2025

Es gibt Texte, die liest man nicht freiwillig. Der neue Koalitionsvertrag ist so einer. 144 Seiten, Titel: „Verantwortung für Deutschland“. Klingt groß. Ist es auch – irgendwie. Aber während sich die meisten mit den üblichen Zusammenfassungen begnügen – Investitionen solide, Migrationspolitik knallhart und menschenfeindlich, der Rest irgendwo zwischen Absichtserklärung und Worthülse – lese ich dieses Papier anders. Weil ich es muss. Und weil ich es will. Als jemand, der weiß, wie solche Texte entstehen. Der erlebt hat, wie sie verhandelt, gefeilscht, umgeschrieben werden, bis sich alle Parteien irgendwie wiederfinden. Und der weiß, was zwischen den Zeilen steht – und was bewusst nicht.

Koaltionsvertrag 2025

Gestern beim Gespräch am Gartenzaun wurde mir das wieder klar. Meine Nachbarn sehen in diesem Vertrag eine Regierungsvereinbarung. Ich sehe ein Lehrstück in politischer Sprache, in Absicherung, in strategischer Zweideutigkeit. Und ich frage mich: Wann ist aus dem Werkzeug des Kompromisses ein Instrument der Täuschung geworden?

Dabei ist das Schließen von Kompromissen kein Makel – es ist das Herzstück jeder funktionierenden Demokratie. In einer Zeit, in der politische Lager in vielen Ländern nicht einmal mehr miteinander sprechen, ist es fast schon ein Luxus, dass in Deutschland überhaupt noch verhandelt wird. Wer sehen will, was passiert, wenn Kompromissfähigkeit verloren geht, muss nur in die USA blicken: Blockade, Polarisierung, institutionelle Lähmung. Dass wir hierzulande überhaupt noch Koalitionsverträge schließen, ist ein gutes Zeichen.

Ein Koalitionsvertrag ist keine Liebeserklärung – er ist ein Vertrag zwischen politischen Konkurrenten. Und genau darin liegt seine demokratische Kraft. Aber gerade weil Kompromisse so wertvoll sind, sollten wir sie nicht tarnen. Nicht mit weichgespülter Sprache, mit rhetorischer Absicherung, mit strategischer Irreführung. Wer Kompromisse schließen kann, sollte auch dazu stehen. Und sie so erklären, dass man sie verstehen kann.

Ein Beispiel für bewusste Irreführung

Kaum ein Vorhaben der vergangenen Legislatur hat die öffentliche Debatte so aufgewühlt wie das sogenannte „Heizungsgesetz“. Es war wochenlang das Reizthema der Republik – aufgeladen mit Ängsten, Desinformation und gezielter politischer Dramaturgie. Genau an dieser Stelle offenbart der neue Koalitionsvertrag seine vielleicht perfideste Passage: Dort heißt es wörtlich: „Wir werden das Heizungsgesetz abschaffen.“. Um dann im nächsten Satz zu beschreiben, wie das Gebäudeenergiegesetz angepasst werden soll. Denn: Ein „Heizungsgesetz“ hat es nie gegeben. Gemeint ist offenbar das Gebäudeenergiegesetz (GEG) – jenes Gesetz, das im selben Absatz weiterhin gelten soll, allerdings mit punktuellen Änderungen. Es wird also kein Gesetz abgeschafft, sondern ein politisches Zerrbild rhetorisch entsorgt.

© Nikola Renckova/unsplash
© Nikola Renckova/unsplash

Was hier passiert, ist kein Versehen, sondern eine gezielte Irreführung. Man suggeriert öffentlich eine Kehrtwende, um symbolisch den Schulterschluss mit konservativer Kritik zu demonstrieren – ohne inhaltlich Substanzielles zu verändern. Eine politisch inszenierte Beruhigungspille für all jene, die sich monatelang an der Karikatur eines Gesetzes abgearbeitet haben, das in dieser Form nie existierte.

Wer so formuliert, setzt nicht auf Aufklärung, sondern auf Täuschung mit Ansage.
Honi soit qui mal y pense.

Das Prinzip „Wir wollen“ – zwischen Absicht und Unverbindlichkeit

Wer tiefer in den Koalitionsvertrag eintaucht, merkt schnell: Die Formulierungen sind oft bewusst vage gehalten. Besonders auffällig ist das kleine, harmlose Wort „wollen“. Es kommt über 1.400 Mal vor – und ist damit das beliebteste politische Verb dieses Koalitionsvertrags. „Wir wollen mehr Güterverkehr von der Straße auf die Schiene verlagern.“„Wir wollen auch die Besteuerung der Rentnerinnen und Rentner vereinfachen.“„Wir wollen ein modernes Einwanderungsgesetz.“.

„Wollen“ klingt aktiv, entschlossen, vertrauenswürdig. Aber in Wirklichkeit ist es das genaue Gegenteil: ein Ausweichmanöver, eine rhetorische Lebensversicherung für alles, worauf man sich nicht wirklich festlegen konnte – oder wollte.

Denn „wollen“ verpflichtet zu nichts. Es suggeriert Handlungswillen, wo oft nur Stillstand oder Uneinigkeit herrscht. Es dient dazu, der Öffentlichkeit Tatkraft zu signalisieren, während intern noch längst nicht klar ist, ob und wie ein Vorhaben überhaupt zustande kommt. Und wenn es dann später doch scheitert? Dann kann man immer sagen: „Wir wollten ja, aber...“

Prüfaufträge: Wenn Politik sich selbst vertagt.

Neben dem inflationären Gebrauch des Wortes „wollen“ fällt im Koalitionsvertrag ein weiteres Muster auf: die Delegation von Entscheidungen an Prüfaufträge. So heißt es etwa: „Wir prüfen die Einführung einer Kinderkarte für alle kindergeldberechtigten Kinder“, „Wir prüfen die Anpassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“, oder: „Wir prüfen die Reform der Künstlersozialversicherung.“

Solche Formulierungen klingen nach Tatkraft, sind jedoch oft ein Zeichen dafür, dass keine Einigung erzielt wurde und die Entscheidung vertagt wird. Die Verantwortung wird an spätere Verfahren delegiert, was die Umsetzung ungewiss macht. Für Bürger:innen bleibt das Gefühl: Da wurde etwas angekündigt – aber nichts gesagt.

© Nick Fewings/unsplash
© Nick Fewings/unsplash

Kommissionen: Wenn Entscheidungen auf die lange Bank geschoben werden

Neben den zahlreichen Prüfaufträgen setzt der Koalitionsvertrag auch auf Kommissionen – politische Auslagerungen mit eingebauter Verzögerung. Eine dieser Kommissionen soll beispielsweise Vorschläge zur Umsetzung der EU-Transparenzrichtlinie zur Entgelttransparenz erarbeiten – Ergebnisse werden für Ende 2025 angekündigt. Ein anderes Gremium wird sich mit der nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitswesens beschäftigen. Auch eine Kommission zur Modernisierung und Entbürokratisierung des Sozialstaats ist vorgesehen – gemeinsam mit Ländern und Kommunen.

All das klingt zunächst nach Struktur, nach sorgfältiger Vorbereitung. Aber wer sich länger mit diesen Verfahren beschäftigt hat, weiß: Kommissionen sind häufig das politische Äquivalent zur Warteschleife. Sie erzeugen den Eindruck von Bewegung, während in Wahrheit Stillstand herrscht – oder zumindest der politische Wille zur Entscheidung fehlt. Was dringend wäre, wird durchgereicht, weitergeleitet, ausgelagert.

Natürlich braucht komplexe Politik Expertise. Aber es ist ein Unterschied, ob man Wissen bündelt – oder Verantwortung parkt. Und letzteres geschieht hier zu oft.

Rechtsbruch mit Ansage?

Manche Stellen im Koalitionsvertrag lassen einen beim Lesen nicht nur stutzen – sondern schlucken. Denn es gibt Formulierungen, die über Unverbindlichkeit oder Prüferei hinausgehen. Es sind Sätze, die Maßnahmen ankündigen, die nach allem, was wir über geltendes Recht wissen, nicht umsetzbar sind. Und das wissen die Beteiligten auch.

Ein besonders drastisches Beispiel: Die geplante Zurückweisung von Migrant:innen an deutschen Außengrenzen. Ein solcher Schritt wäre ein klarer Verstoß gegen europäisches Recht – genauer: gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und geltendes EU-Asylrecht. Und doch steht es im Vertrag, versehen mit politischen Floskeln wie „ordnungsgemäße Verfahren“, „Schutz der Grenzen“ und „wirksame Steuerung“.

Warum schreibt man so etwas auf, wenn man weiß, dass es juristisch nicht haltbar ist? Weil es um Wirkung geht, nicht um Wahrheit. Weil man ein Signal senden will – nach innen, an den rechten Rand, an Medien, an die eigene Basis. Und weil man im Zweifel sagen kann: „Wir haben es versucht – Brüssel war schuld.“

Das ist mehr als politische Symbolik. Das ist kalkulierte Irreführung mit juristischem Kollateralschaden. Wer ein solches Spiel mit dem Recht betreibt, schadet nicht nur der Sache – sondern der Glaubwürdigkeit demokratischer Institutionen insgesamt.

Wenn Sprache Vertrauen verspielt

Das alles mag für manche wie politisches Alltagsgeschäft klingen. Aber genau das ist das Problem. Wenn sich sprachliche Unverbindlichkeit, strategische Zweideutigkeit und symbolpolitische Irreführung als normale Werkzeuge der Macht etablieren, dann verändert das etwas Grundsätzliches: die Beziehung zwischen Politik und Öffentlichkeit.

Denn Politik lebt vom Vertrauen. Vom Glauben daran, dass Worte zählen. Dass Zusagen etwas bedeuten. Dass Kompromisse ehrlich sind – und nicht nur inszeniert. Wenn aber Koalitionsverträge so formuliert sind, dass man alles hineinlesen und im Zweifel wieder relativieren kann, dann kippt dieses Vertrauen. Nicht sofort. Aber schleichend. Und nachhaltig.

Das wurde mir neulich am Gartenzaun wieder deutlich. In einem Gespräch mit Nachbarn über genau diesen Koalitionsvertrag zeigte sich, wie groß die Lücke geworden ist – zwischen dem, was ein solcher Text meint, was er sagt und was draußen ankommt.
Wo Absicherung beabsichtigt war, wurde Tatkraft gehört. Wo Prüfaufträge standen, wurde Hoffnung geweckt. Und später: Enttäuschung.

Die Menschen spüren sehr genau, wenn Sprache nicht mehr aufklärt, sondern verschleiert. Wenn Gesetze angekündigt werden, die es nicht gibt. Wenn Prüfaufträge als Entscheidungen verkauft werden. Wenn Maßnahmen versprochen werden, die rechtswidrig sind – aber trotzdem drinstehen, weil sie sich gut lesen.

So entsteht eine Distanz zwischen politischer Kommunikation und demokratischem Anspruch. Und genau in diese Lücke stoßen die, die es ernst meinen mit ihrer Verachtung für die Demokratie. Die Populisten. Die Lauten. Die Vereinfacher.

Und wenn dann das nächste Mal ein Koalitionsvertrag erscheint und wieder „Verantwortung“ im Titel trägt – wer glaubt es dann noch?

Zwischen Klarheit und Kalkül – ein persönlicher Blick

Ich schreibe diesen Text nicht aus einer distanzierten Beobachterrolle. Ich bin Teil dieses Systems. Ich sitze in Sitzungen, verhandle Formulierungen, ringe um Kompromisse – und manchmal auch um Worte. Ich weiß, wie schwer es ist, Dinge zu sagen, wenn sie noch nicht entschieden sind. Ich kenne diese Momente, in denen ich öffentlich etwas erklären soll, obwohl ich intern längst weiß: Das wird so nicht kommen. Oder: Das ist heikel, juristisch unsicher, politisch brisant.

INTERVIEW

Und dann beginne ich zu formulieren. So, dass ich nichts Falsches sage. So, dass ich mich nicht festlege. So, dass es in alle Richtungen offenbleibt – und trotzdem entschlossen klingt. Ich wähle Verben wie „wollen“, rede von „prüfen“, vermeide Konkretes. Nicht, weil ich Menschen bewusst täuschen will. Sondern weil es politisch gerade nicht anders geht. Weil Abstimmungen fehlen. Weil Fraktionen noch uneins sind. Weil ein Satz im falschen Moment eine ganze Verhandlung zum Kippen bringen kann.

Aber ich merke auch, wie sehr mich das manchmal quält. Weil ich eigentlich anders kommunizieren will. Weil ich das Gefühl habe, dass wir damit nicht nur vorsichtig, sondern auch unnahbar werden. Weil ich weiß, dass draußen Menschen sitzen, die sich Ehrlichkeit wünschen – und sie nicht bekommen.

Vielleicht ist genau das der Anfang von mehr Vertrauen: Nicht perfekte Sätze, sondern wahrhaftige.

Und vielleicht ist ein Koalitionsvertrag dann irgendwann nicht mehr das Hochamt der rhetorischen Absicherung – sondern wieder ein politischer Text, der sagt, was ist. Und was sein soll.

Was jetzt zu tun ist

Eine der wichtigsten Aufgaben eines Koalitionsvertrags muss sein, die Möglichkeit für Kompromisse unter Demokraten – und ihre gesellschaftliche Akzeptanz – langfristig zu sichern. Denn wenn das Vertrauen in den Wert des Kompromisses schwindet, verlieren nicht nur Regierungen ihre Glaubwürdigkeit, sondern Demokratien ihre Stabilität.

Genau darum geht es: Populisten wie der AfD die Grundlage für ihre Arbeit zu entziehen – nicht durch schärfere Rhetorik, sondern durch bessere Politik. Durch Sprache, die nicht verschleiert, sondern erklärt. Durch Texte, die nicht absichern, sondern einladen. Und durch eine politische Kultur, die den Mut hat, unvollkommen, aber ehrlich zu sein.

Daran entscheidet sich, ob wir uns selbst als demokratische Gesellschaft noch verstehen – und auch so sprechen. Das ist Teil der Verantwortung für Deutschland.

Verantwortung für Deutschland. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 21. Legislaturperiode

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