Deindustrialisierung ist der Nährboden des Faschismus. Eine Nachlese zur EU-Wahl.

12. Juni 2024

Eine wichtige, wenn auch nicht wirklich neue Erkenntnis, aus den Ergebnissen der Europawahl ist, dass Wähler:innen der AfD die Partei nicht aus Protest wählen, sondern weil sie deren Ideologie teilen. Ein Drittel der AfD-Wähler:innen verfügen über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. Und gerade bei jungen Wähler:innen verfängt die Propaganda des Faschisten Höcke und seiner Kumpane. Das macht Angst. Liegt es an zu wenig politischer Bildung? Müssen die demokratischen Parteien mehr auf TikTok präsent sein? Müssen wir mehr Flagge zeigen für unsere Demokratie? Ja, das ist sicher alles richtig. Vor allem aber müssen wir den Bürger:innen in unserem Land eine Perspektive geben, wie wir trotz oder vielleicht sogar wegen aller Umbrüche in Wirtschaft und Gesellschaft, in eine gute, gesicherte Zukunft gehen wollen.

Raoul mit Maria Noichl
Im Gespräch mit der wiedergewählten bayerischen EU-Abgeordneten Maria Noichl (Photo: Thomas Witzgall)

Was sind die prägenden Debatten unserer Zeit? Ganz sicher der Klimawandel. Digitalisierung, Globalisierung und damit die veränderte Rolle von Nationen und Bündnissen, Multilateralismus, Veränderung der Arbeitswelten, Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit, die Rolle des Sozialstaates, die Zukunft des Kapitalismus, all das und noch viel mehr... Aber was sind das alles? Eben. Themen, die versuchen, die aktuelle Zeit zu fassen, einzuklammern, zu ordnen und so halbwegs sortiert in die Zukunft zu stolpern. Und wenn wir ehrlich sind, sind diese Themen uns allen aufgezwungen worden. Sie kommen gleichzeitig und mit einer Wucht, die viele und eigentlich alle überfordern. Vor allem, weil klar ist, dass wir nicht alles gleichzeitig adäquat lösen können. Obwohl wir es müssten. Alles ist überwältigend. Und darauf kann es natürlich nur eine gestaltende Antwort geben. Wie kriegen wir das in den Griff? Und an diesem Punkt der Debatte stehen wir. Und zwar alle.

Auch die Konservativen und die Unmodernen, auch die müssen diese Debatten führen. Getrieben von der Geschwindigkeit der Welt. Sie sind völlig überfordert, weil ihr Werkzeugkasten leer ist. Der konservative Kern war und ist, das Erhaltenswerte zu bewahren und den Fortschritt zu begleiten. Ja, die Werkzeugkästen, aber die sind leer. Sie wissen vielleicht, was zu bewahren ist, aber sie wissen nicht, welchen Fortschritt sie umarmen sollen. Alles ist eine Bedrohung.

Und weil ihr Werkzeugkasten leer ist, greifen sie zum Vierkantholz und schlagen auf alles ein, was nach Fortschritt und Veränderung riecht. Sie fühlen sich bedroht, weil sie keine Antwort auf die Debatten und Themen haben, die ihnen und uns allen aufgezwungen werden. Sie schlagen um sich, weil sie dumm und leer sind, programmatisch ausgebrannt, ohne Idee, was Konservatismus in Zukunft bedeuten könnte. Sie sind intellektuell erschöpft. Da kommt nichts mehr. Ihr Kulturkampf ist ein Rückzugskampf.

Es ist wichtig, die planetare Grenzen als Fragestellung in die wirtschaftliche Debatte einzubeziehen. Aber wir brauchen gleichzeitig eine moderne, zukunftsgewandte Industrie, die materiellem Wohlstand und sinnstiftender Erwerbsarbeit sichern, zwei zentralen Säulen unserer Vorstellung einer solidarischen Gesellschaft. Wir dürfen daher nichts unversucht lassen, um eine Deindustrialisierung trotz Einhaltung der planetaren Kapazitäten – sowohl in Bezug auf Emissionen als auch in Bezug auf Ressourcenverbrauch – zu verhindern. Kurz-und mittelfristig herbeigeführte Deindustrialisierung würde vor allem dazu führen, dass Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitsplätze verlieren und damit nicht nur in existenzielle Not geraten, sondern auch die Teilhabe an der Gesellschaft verlieren. Ganze Regionen und Gebiete wären bedroht, das soziale Spaltungspotential ist enorm.

Raoul Betriebsbesichtigung
Betriebsbesichtigung mit Sebastian Roloff, MdB, bei einem Industriebetrieb in Neuaubing (Photo: Arda Celik)

Die Auswirkungen einer bewussten, aber unkontrollierten Deindustrialisierung nach der Wende sind gerade an den AfD-Wahlergebnissen in den neuen Bundesländern abzulesen: Renten, Löhne, Erbschaften, Eigentum, alles ist deutlich niedriger als im Westen. Der durchschnittliche Jahreslohn in den alten Bundesländern liegt 13.000 Euro höher, als in den neuen Bundesländern. Den Menschen wurden blühende Landschaften versprochen, bekommen haben sie Massenarbeitslosigkeit und abgehängte Ortschaften ohne Nahversorgung.

Die Deindustrialisierung ist der Nährboden auf dem der Faschismus gedeiht.

Unser Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter hat beim Empfang zu Stadtgeburtstag zu den Münchner Ergebnissen, vor allem der AfD gesagt, dass er „verdammt Stolz“ sei auf diese Stadt. Und in der Tat, mit einem Ergebnis von 6,7% (+ 0,7 Prozentpunkte) hat diese Partei deutlich schlechter abgeschnitten als im Bundesdurchschnitt, als in Bayern, oder in Köln, Frankfurt am Main oder Würzburg. Sein Stolz ist also durchaus berechtigt. Liegt das an der toleranten und weltoffenen Geisteshaltung der Münchnerinnen und Münchner? Sicher auch. Aber es liegt eben auch an der wirtschaftlichen Leistungskraft dieser Stadt mit einer gesunden Mischung aus Großkonzernen, Industrie, Hightech, Mittelstand, Handwerk, Start-up und Kreativwirtschaft. Diese Mischung gibt den Bürger:innen dieser Stadt eine Perspektive. Fachkräfte sind rar und wenn ein großes Sporthaus in der Innenstadt schließt, stehen die HR-Leute anderer Firmen beim Räumungsverkauf zwischen den Regalen und werben die Mitarbeiter:innen ab. Gleichzeitig sichern die Einnahmen aus der Gewerbesteuer die Leistungen der Stadt im Bereich Soziales, Wohnungsbau, Nahverkehr, Bildung, Kultur usw. Von vielem, was in München selbstverständlich ist, können die meisten anderen Städte in Deutschland nur träumen.

Und gerade weil wir wollen, dass die Münchner:innen positiv in die Zukunft blicken können, weil wir unsere weltoffene, tolerante Stadt lieben und eben weil die Veränderungen der Zukunft auch von unseren Stadtgrenzen nicht halt machen werden, müssen wir jetzt aktiv werden, um die Wirtschaft, die Industrie und das Handwerk zukunftsfit zu machen. München muss eine Industriestadt, eine Stadt des produzierenden Gewerbes bleiben, denn von beiden hängen auch all die Dienstleistungsberufe ab. Wir Sozialdemokraten machen Wirtschaftspolitik aus der Sicht der arbeitenden Menschen, denn die Menschen arbeiten und schaffen den Wohlstand, nicht das Geld.

Auf ihrem Zukunftsparteitag im vergangenen Jahr hat die Münchner SPD die ersten wichtigen Grundlagen für eine kommunale Wirtschaftspolitik mit sozialdemokratischer Handschrift gelegt und die ersten Schritte sind von der SPD/Volt-Fraktion in den Stadtrat eingebracht: ein Transformationsmonitoring, das mittelfristig in eine kommunale Transformationsagentur eingebracht werden soll. Viele weitere Schritte werden noch folgen. Der ganzen Beschluss des Zukunftsparteitags ist hier nachzulesen

Zukunftsparteitag
Paneldiskussion zur Transformation auf dem Zukunftsparteitag der Münchner SPD (Photo: Thomas Witzgall)

Das Münchner Ergebnis der EU-Wahl lässt uns also mit zwei wichtigen Erkenntnissen zurück: wenn wir die Neo-Faschisten in unserer Stadt klein halten wollen, dann müssen wir uns darum kümmern, dass die Menschen dieser Stadt mit Zuversicht in ihre persönliche Zukunft schauen können. Und wir müssen klar machen, dass diese Zuversicht nur mit einer starken Münchner SPD erhalten werden kann, die in den vergangenen Jahrzehnten die Grundlage des heutigen Erfolgs und des Zusammenhalts gelegt hat. Der SPD-Zugewinn um 0,5% bei der Wahl spiegelt das noch nicht wieder. Bis zur Kommunalwahl 2026 werden wir das deutlich machen.

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