Warum ich Bürokratie liebe!

20. Juni 2025

Neulich stand ich im Bürgerbüro bei mir im Stadtbezirk. Ich hatte einen Termin für einen neuen Personalausweis. Dabei viel mir folgende Szene auf: ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig, sichtlich nervös. Seine Begleiterin stützte ihn leicht am Arm – erst später wurde mir klar, dass er eine Sehbehinderung hatte. Die Mitarbeiterin am Schreibtisch, etwa Mitte fünfzig, routiniert und freundlich, beugte sich zu ihm vor, sprach langsam, ließ ihn fühlen, wo er unterschreiben sollte. Es dauerte etwas länger. Niemand murrte, die Verwaltungsmitarbeiterin nahm sich Zeit, obwohl der Wartebereich gepackt voll war.

Ich liebe Bürokratie.

Nicht, weil ich gerne Formulare ausfülle oder weil mir Wartebereiche ein besonders wohliges Gefühl geben. Ich liebe Bürokratie, weil sie der Ort ist, an dem der Staat sein Gesicht zeigt. Nicht in den Schlagzeilen, nicht auf den Wahlplakaten – sondern ganz konkret, wenn ein Mensch ins Bürgerbüro geht und spürt: Ich werde gesehen. Es funktioniert. Ich bin Teil von etwas Größerem.

© Wesley Tingey/unsplah
© Wesley Tingey/unsplash

Die Karikatur vom „Bürokratiemonster“

Natürlich ist das nicht immer so. Wir alle kennen Geschichten vom Papierkrieg, von kafkaesken Zuständigkeiten, von Formular 17b, das man nur bekommt, wenn man vorher Formular 16a vorgelegt hat – und dafür braucht man eine Bescheinigung, dass man Formular 15 jemals gesehen hat. Aber das ist nicht die Idee der Bürokratie. Das ist ihre Karikatur. Die Vorstellung, dass Bürokratie vor allem lähmt, ist eine Erzählung, die sich tief in unseren Köpfen eingenistet hat. Aber sie ist nicht neutral. Sie dient einem Zweck.

Denn wer den Staat schlechtredet, wer seine Institutionen als schwerfällig, teuer und nutzlos abtut, der bereitet den Boden dafür, dass man ihn schwächt. Dass man kürzt, privatisiert, auslagert. Und damit nimmt man genau die Strukturen auseinander, die dafür sorgen, dass Menschen Rechte haben – nicht nur auf dem Papier, sondern im echten Leben.

Ich erinnere mich an eine andere Begegnung. Aylin, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, arbeitet in der Altenpflege. Sie erzählte mir einmal, wie erleichtert sie war, als das Sozialbürgerhaus nach einem langen Gespräch eine Legasthenietherapie für ihren jüngeren Sohn auf den Weg brachte – über die sogenannte wirtschaftliche Jugendhilfe. „Die zahlen nicht nur vollständig dafür, die haben das für mich organisiert, ich musste nicht mal groß rumsuchen“, sagte sie. „Ich dachte immer, ich müsste das alles selbst stemmen.“ Auch das ist Bürokratie: nicht kühl und abweisend, sondern der Versuch, mit begrenzten Mitteln Gerechtigkeit herzustellen.

Gleichheit im Alltag – nicht nur im Gesetz

Die große Kraft der Bürokratie liegt darin, dass sie allen das Gleiche anbietet – egal ob du Vorstand bist oder Mindestlohn bekommst. Ein Antrag wird nach denselben Regeln geprüft, ein Pass mit denselben Dokumenten ausgestellt. Das mag unpersönlich wirken, ist aber eine radikale Idee: Niemand bekommt mehr, weil er jemanden kennt. Es zählt, was gilt – nicht, wen du kennst. Und das ist, in einer Zeit wachsender Ungleichheit, eine der wenigen verlässlichen Sicherheiten.

Bürokratie, so langweilig sie klingt, ist die Betriebssoftware der Demokratie. Ohne sie gibt es kein funktionierendes Zusammenleben. Kein Wohngeld, keine Schulpflicht, keine sauberen Trinkwasserleitungen. Gerade in den Kommunen, wo der Staat den Menschen am nächsten ist, zeigt sich, wie wichtig eine funktionierende Verwaltung ist.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Landeshauptstadt München. Mit gut 45 000 Beschäftigten in der Kernverwaltung – und über 60 000, wenn man die großen kommunalen Unternehmen wie die Stadtwerke München oder die Münchner Verkehrsgesellschaft mitzählt – ist sie die größte Kommunalverwaltung Deutschlands. In diesem Kosmos arbeiten Ingenieur:innen, Sozialpädagog:innen, Fachärzt:innen, Stadtplaner:innen, Programmierer:innen, Fahrer:innen und viele weitere Professionen. Praktisch jedes Themenfeld unseres menschlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens findet sich hier wieder. Diese enorme Fachvielfalt ist kein Luxus, sondern die Voraussetzung dafür, dass Verwaltung Lösungen aus einer Hand anbieten kann – ohne jede Frage an Beratungsfirmen auslagern zu müssen.

© Marlene Haiberger/unsplash
© Marlene Haiberger/unsplash

Reform heißt nicht Kahlschlag – sondern Haltung

Natürlich braucht Bürokratie Reformen. Sie muss schneller werden, einfacher, zugänglicher. Aber die Lösung liegt nicht darin, alles auf Effizienz zu trimmen wie ein Unternehmen. Der Staat ist kein Start-up, das sich an der nächsten Finanzierungsrunde messen muss. Sein Maßstab ist ein anderer: Fairness, Stabilität, Daseinsvorsorge. Die Frage ist nicht: Wie billig kann es sein? Sondern: Wie gerecht kann es werden?

Ein Schlüssel liegt dabei weniger in neuer Technik als in einer neuen Haltung. Denn viele der digitalen Werkzeuge sind längst vorhanden – die Herausforderung ist oft nicht, was möglich ist, sondern wie man es einsetzt. Damit Bürger:innen sich im Kontakt mit Verwaltung nicht verloren fühlen, braucht es mehr als Software. Es braucht Vertrauen – und eine Kultur, die Verantwortung nicht wegregelt, sondern ermöglicht.

Wenn Verwaltung gelingen soll, muss sie sich selbst nicht als Bollwerk gegen Fehler verstehen, sondern als Ermöglicherin. Menschen in der Verwaltung brauchen die Freiheit, mit Augenmaß zu entscheiden, ohne bei jedem Schritt Angst vor Regress oder Prüfvorgaben zu haben. Wenn jede Entscheidung zehn Unterschriften braucht, wächst nicht die Qualität – sondern nur die Unsicherheit. Vertrauen statt Misstrauen, Gestaltungswille statt bloße Absicherung: Das ist keine Frage von Ressourcen, sondern von Haltung.

Und diese Haltung beginnt ganz konkret – im Gespräch mit den Bürger:innen, in der Zusammenarbeit zwischen Ämtern, in der Art, wie Vorgesetzte mit ihren Teams umgehen. Eine moderne Verwaltung muss nicht nur digital sein, sondern vor allem menschlich. Nicht perfekt, aber verlässlich. Nicht starr, aber klar. Sie darf Fehler machen, solange sie daraus lernt. Und sie darf Haltung zeigen, solange sie offen bleibt für Kritik.

Diese Veränderungen brauchen Zeit, Geduld – und auch politische Rückendeckung. Denn Vertrauen kann man nicht anordnen. Man muss es leben.

Raoul am Schreibtisch

Bürokratie ist das Rückgrat der Demokratie

Ich weiß, das klingt altmodisch. „Liebe“ und „Bürokratie“ in einem Satz? Aber vielleicht ist genau das der Punkt. Wir haben verlernt, den Wert öffentlicher Strukturen zu sehen. Und damit auch den Wert der Menschen, die sie tragen – von der Sachbearbeiterin im Sozialbürgerhaus bis zum Netzadministrator im IT-Referat. Sie alle arbeiten daran, dass der Alltag nicht ins Chaos kippt. Dass Regeln gelten. Dass Menschen nicht verloren gehen in einer Gesellschaft, die oft zu laut, zu schnell, zu unübersichtlich ist.

Es ist kein Zufall, dass autoritäre Regime als Erstes unabhängige Verwaltungen untergraben. Sie wissen: Eine funktionierende Bürokratie schützt nicht nur Rechte – sie macht sie sichtbar. Wer den Pass ausstellen darf, kann auch bestimmen, wer dazugehört. Wer Gesetze anwendet, kann auch kontrollieren, ob sie überhaupt noch gelten. Bürokratie ist nicht der Feind der Freiheit. Sie ist ihr Rückgrat.

Am Ende meines Besuchs im Bürgerbüro wurde ich aufgerufen. Eine junge Mitarbeiterin mit blondem Buzzcut und leiser Stimme nahm meine Unterlagen entgegen, prüfte alles sorgfältig und sagte dann: „Das geht klar. Ihr Ausweis ist in circa drei Wochen da, hier können Sie online checken, wie der Bearbeitungsstand Ihres Antrags ist.“ Kein Drama. Keine große Geste. Einfach: Es funktioniert.

Und genau deshalb liebe ich Bürokratie.

Weil sie unser gemeinsames Versprechen ist, dass niemand durchs Raster fällt. Weil sie dort einspringt, wo der Markt keine Antwort hat. Weil sie nicht nur Akten verwaltet, sondern Schicksale. Manchmal stolpert sie, manchmal verzettelt sie sich. Aber sie bleibt – wenn wir sie lassen – der Ort, an dem unsere Demokratie greifbar wird.

Vielleicht wäre es Zeit, nicht weniger Verwaltung zu fordern – sondern eine, die sich ihrer Stärke bewusst ist. Eine, die den Menschen vertraut, die sie trägt. Und eine Gesellschaft, die das auch tut.

Quellen:

  • Landeshauptstadt München: Personalbericht 2024
  • Mariana Mazzucato: Mission Economy. A Moonshot Guide to Changing Capitalism, London 2021
  • Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1922, Teil III, Kap. 1 „Die Typen der Herrschaft“

Teilen